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Oktober / November 2013

Liebe Gemeinde,

ein Mensch ist ein Wunder. Schon der Körper – innen und außen, Wachstum und Energie, Erhaltung und Bewegung nach einem verborgenen, schönen Plan. Ein zweites Wunder ist das Bewusstsein: wir können fühlen und denken, gestalten und mitteilen. Das dritte Wunder, das mich staunen lässt, ohne dass ich es annähernd verstehe, ist das »Ich«. Was bedeutet es, dass ich zu genau einem Menschen »Ich« sage? Es ist unendlich unwahrscheinlich, dass »ich« einen der Milliarden lebenden Menschen »von innen« erlebe. Ich glaube nicht, dass es Zufall ist.

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Wer ist »Ich«? Wenn ich darüber nachdenke, ist das ein schwindelerregender Gedanke. Über nichts in der Schöpfung kann ich mich so wundern wie über dieses von Gott geschenkte und manchmal auch recht anstrengende »Ich«.

In der Bibel (2. Mose 3, 14) wird erzählt, wie Mose am Berg Horeb Gott begegnet und ihn nach seinem Namen fragt. Die Antwort ist der häufigste Gottesname in der Bibel, den fromme Juden zwar schreiben, aber aus Respekt nie aussprechen: »Jahwe«, auf Deutsch »Ich bin ich« oder »Ich bin, der ich sein werde«.

»Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde« (1. Mose 1,27): Der Gott »Ich bin ich« schuf mein »Ich bin ich«. Dieses »Ich« ist also keine Nebensache, sondern die Stelle, an der ich Gott am ähnlichsten bin. Hier bin ich (und jeder andere Mensch) sein Bild. Das bedeutet wohl nicht, dass Gott mir ähnlich ist: »Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott.« Aber ich vermute, dass das »Ich« Gott nahe und sympathisch ist, ein Kernstück seiner Schöpfung, das er besonders mag.

Moses übernahm nach der Vorstellungsrunde am Berg einen Auftrag Gottes: Das Volk Israel aus Ägypten in die Freiheit zu führen. Dieser Auftrag verlangte, zusätzlich zur Autorisierung durch den »Ich werde sein«, eine Menge Ich-Stärke. Gott beauftragt Leute, die den Mut haben, »Ich« zu sagen. Martin Luther weigerte sich auf dem Reichstag zu Worms, das zu widerrufen, was er für richtig hielt.

Wahrscheinlich sagte er nicht das oft zitierte »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, sondern »Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun«. Auch dieser Satz betont das »Ich« und das Gewissen als sensibelsten Teil des »Ich«.

In manchen Zeiten und Gruppen wurde und wird in der Kirche, wo Bescheidenheit ein großer Wert ist, das »Ich« klein gemacht. Da wird Selbstverwirklichung abgewertet, als sei es nicht gerade unser Schöpfungsauftrag von Gott, uns selbst zu verwirklichen. Ich halte das für einen Irrtum. Gottes Wertschätzung für das »Ich werde sein« jedes Menschen ist freilich mit Verantwortung verbunden – bei Mose, bei Luther, bei Ihnen und bei mir. Luther beendete seine Rede deshalb mit »Gott helfe mir. Amen«. Ich bin sicher: Der »Ich bin ich« will auch uns selbst-bewusst.

Mit herzlichen Grüßen
Reinhard John