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Oktober / November 2017

Liebe Gemeinde,
zu Luthers Zeiten weideten auf der Striesener Flur noch Schafe. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Striesen zur Dresdner Vorstadt. 1880 wurde die Erlöserkirche gebaut als Kirche der Böhmischen Exulanten und der Striesener Protestanten. Vier lange Straßen in Ost-West-Richtung wurden nach wichtigen Orten der Reformation benannt, nach Augsburg, Wittenberg, der Wartburg und Worms. Die kürzeren Querstraßen erhielten Namen von bedeutenden Theologen späterer Jahrhunderte: Paul Gerhardt, Philipp Spitta, Philipp Jakob Spener und Valentin Ernst Löscher.


© Hanno Schmidt

Für das Titelbild habe ich ein altes Foto ausgegraben. Es zeigt ein Relief aus Sandstein, das am Pfarrhaus auf der Paul- Gerhardt-Straße angebracht war. Nach der Zerstörung des Pfarrhauses lag es noch einige Jahre im Vorgarten, bevor es abhanden kam. Das Relief zeigt Martin Luther mit der Laute, umgeben von seiner Familie. Auf dem alten Foto ist das Sandsteinbild wiederum von einer Kinderschar und einer Diakonisse umgeben. Vielleicht handelt es sich um eine Christenlehregruppe?

Das Foto bezeugt uns: In unserem Stadtteil nahm der evangelische Glaube einst eine wichtige Rolle ein. Die Nachfahren der Böhmischen Exulanten schätzten als Merkmale dieses Glaubens die Bibel und das Heilige Abendmahl in beiderlei Gestalt hoch. Sie hielten die Erinnerung an die Verfolgung der Evangelischen im 17. Jahrhundert wach. Diese Erinnerung wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Osten Deutschlands wieder Wirklichkeit. In den Jahren um 1957, als unser Foto entstand, wurden besonders junge Christen benachteiligt und an der Ausübung ihres Glaubens behindert. Die Stadt Dresden enteignete 1961/62 die Kirchgemeinde und ließ die Ruine der Erlöserkirche abreißen, um Wohnhäuser zu bauen.

Das alte Foto bezeugt: Wir lassen uns nicht unterkriegen. Trotz aller Widrigkeiten geben wir unseren Glauben weiter an die junge Generation. Das Bild erzählt auch vom Miteinander der Generationen, das wir in unserer Gemeinde zu leben versuchen. Alte Menschen freuen sich über Begegnungen mit Kindergartenkindern und Konfirmanden. Jugendliche staunen, was die Älteren zu erzählen haben.

Auf dem Relief, das das Pfarrhaus zierte, ist Luther nicht mit Bibel und Doktorhut zu sehen. Eine Laute hält er in der Hand. Gerade die Musik war und ist ein verbindendes Element. Wir geben die alten Lieder an unsere Kinder weiter. Gleichzeitig freuen wir uns, von ihnen neue Lieder zu lernen. In den Musikgruppen unserer Gemeinde treffen sich ganz unterschiedliche Menschen, die ohne die Liebe zur Musik wohl nicht zusammen kämen. Im Ökumenischen Orchester zum Beispiel musizieren Mitglieder verschiedener Gemeinden miteinander. Luthers Laute sagt uns: unser Glaube geht tiefer als alle Theologie. Theologie beschäftigt den Verstand. Theologie ist unverzichtbar als Grundlage, Forschung und Lehre. Die Musik aber betrifft unser Gefühl. Sie spricht uns tief im Herzen an. Und gerade sie bleibt uns erhalten, wenn im hohen Alter die Kräfte des Verstandes nachlassen. Wenn uns Worte nicht mehr erreichen, kann uns die Musik weiter trösten. „Musik ist das beste Labsal einem betrübten Menschen“, sagt Martin Luther, „dadurch das Herz zufrieden, erquickt und erfrischt wird.“ Musik trifft uns im Herzen. Und auch unser Glaube spielt sich nicht in unseren Gehirnzellen ab, sondern in tieferen Regionen. „Woran du nun dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott.“ In diesem Satz aus dem Großen Katechismus fragt uns Luther: Was trägt dich in Krisen und Schwierigkeiten? Wer hilft dir, wenn du nicht mehr weiter weißt?

Unsere Striesener Straßennamen halten auf diese Fragen Antworten bereit. Sie verweisen uns auf wichtige Orte der Reformation, auf Stätten von Lehre und Bekenntnis, auf Lehrer und Dichter der Kirche. Und in dem verschollenen Relief auf die Musik als ein unverzichtbares Herzstück unserer Glaubens.

Feiern Sie mit uns 500 Jahre Reformation! Gemeinsam mit unseren katholischen Schwestern und Brüdern feiern wir am Reformationstag Gottesdienst in der Herz- Jesu-Kirche. Anschließend begeben wir uns auf den Prozessionsweg, dieses Jahr durch die Straßen der Reformation, an den Stätten der verlorenen Kirche und dem verschwundenen Pfarrhaus vorbei. Wie immer endet der Gottesdienst in der Ruine, mit Bläsermusik und Reformationsbrötchen.

Herzlich grüßt Sie
Ihre Pfarrerin Carola Ancot