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Mai - Juli 2023

»WEIGERE DICH NICHT, DEM BEDÜRFTIGEN
GUTES ZU TUN, WENN DEINE HAND ES VERMAG.«
(SPRÜCHE 3,27)

Er kam immer mit einer schäbigen blauen Rolltasche. Wenn es klingelte und Marie aus dem Fenster schaute, konnte sie sich ein Seufzen nicht verkneifen. Es würde vermutlich wieder anstrengend werden und Zeit kosten. Sie öffnete die Tür. Da stand er, die Jogginghosen schlackerten an seinen dünnen Beinen. An den Füßen steckten alte Badelatschen, ausgestopft mit drei dicken Socken und Papier. Das Gesicht war hager und sonnengegerbt. Rastlos reiste er von Ort zu Ort. Ede war vor zwei Jahren das erste Mal bei Marie vorbeigekommen. Sie gehörte zur Kirchgemeinde und führte eine kleine Pension. Wenn Ede einen guten Tag hatte, konnte er interessant erzählen. Immer wieder kam er auch auf seine Kindheit zu sprechen, die von Gewalt und Angst geprägt war. Ede hatte seine schwierigen Seiten. Er konnte unfreundlich sein, richtig pampig. Wenn sie ihm ein Zimmer zur Verfügung stellte, dann rauchte er darin, obwohl sie ihn gebeten hatte, es nicht zu tun. Oft war der Raum am Morgen verwüstet. Manchmal gab sie ihm nur etwas Geld, damit er weiterziehen konnte. Klar, Geld ist wichtig. Aber immer hatte sie auch das Gefühl, sich freizukaufen. Geld hilft, aber die Probleme an der Wurzel packt es oft nicht an. Ihr ging manchmal ein Vers aus den Losungen durch den Kopf: »Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag.« An Ede wurde Marie die Bedeutung, aber auch die Zumutung dieser Worte bewusst. Trotzdem ärgerte sie sich, wenn jemand zu ihr sagte: »Marie, du kannst doch nicht die ganze Welt retten.« Eines Tages stand Ede wieder vor der Tür. Marie war gerade dabei, ein Regal festzuschrauben. Sie kam mit dem Akkuschrauber nicht in die Ecke und konnte die Schraube nicht drehen. »Gib mal her«, sagte Ede, »Kraft hab‘ ich noch.« Mit einer kurzen Handbewegung drehte er die Schraube fest. Es geht nicht gleich um die ganze Welt, dachte Marie in diesem Moment. Es geht um die kleinen Handgriffe. Manchmal reicht eine kräftige Drehung aus dem Handgelenk. Mitunter ist es anstrengend und kostet Zeit. Aber wo es passiert, wird eine kleine Schraube in dieser Welt festgedreht. Der Sommer liegt vor uns. Sommerzeit ist Urlaubszeit und damit die Gelegenheit, die Hände einmal ruhen zu lassen. Damit sie wieder Kraft bekommen für alles, was notwendig ist. Vielleicht nehmen wir die Frage mit: Wo sind die Schrauben, an die ich herankomme? Wofür habe ich Kraft?

Einen schönen Sommer wünscht Ihnen
Ihr Pfarrer Benjamin Hecker